Das philosophische Gastmahl: Virtuelle Welten

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„Wie lebt es sich im Cyberspace“ war die Ausgangsfrage des gestern im Bielefelder Glück und Seligkeit veranstalteten Gesprächs- abends. Und es war tatsächlich eine sehr interessante und erhellende Veranstaltung – allerdings weniger im positiven Sinne.

„Was fasziniert Menschen die sich ins Second Life oder in die World of Warcraft begeben“ war der angekündigte Aufhänger der Diskussion. Aber bereits in der Anmoderation vermischten sich die Themen und alle Grenzen verschwammen. So wurden virtuelle Welten mit MMORPGs, Social Networks und Videoportalen in einen Topf geworfen, von Ego-Shootern war die Rede und immer wieder von den Gefahren und Risiken all dessen.

Natürlich half mein Versuch diese Themen etwas zu strukturieren und die Anregung unterschiedliche Bewertungsmodelle für die einzelnen Formen der Kommunikation bzw. Interaktion zu Rate zu ziehen wenig bis gar nicht.

Und genau das war aber ein sehr interessanter Aspekt: Für uns, die wir täglich mit und in dem Medium Internet und all seinen Facetten arbeiten sind diese Unterschiede klar und eindeutig. Das gilt vermutlich auch für weite Teile des eigenen Umfelds, denn entweder ist dies in ähnlichen Bereichen tätig, selbst sehr interessiert und informiert oder durch uns über viele Jahre bereits erfolgreich missioniert und gebrieft. Das man daraus aber nicht veralgemeinern kann zeigte der gestrige Abend deutlich. Der große Teil der Zuhöhrer kannte diese Unterschiede und die Grenzen nicht. Dabei handelte es sich um Menschen die man despektierlich der Kategorie Bildungsbürgertum zuordnen würde, also Anwälte, Ärzte, Lehrer und Professoren. Aus der Tatsache, dass die Gäste nicht im Thema waren kann man niemandem einen Vorwurf machen, dass aber die Moderatoren und Gastgeber des Abends dies ebenfalls nicht wirklich waren, halte ich für weniger akzeptabel.

So hörten wir als letzten Vortrag von Dr. Thomas Redecker, Mediziner und Psychologe sowie ärztlicher Leiter der Klinik am Hellweg, eine Ausführung über die unterschiedlichen Aufgaben und Funktionsweisen von Stammhirn, Großhirn und Zwischenhirn. Ersteres ist dabei losgelöst von anderen Bereichen u.A. auch für Belohnungen in Form von Dopaminausschüttungen bzw. der Produktion von körpereigenen Opiaten zuständig. Und diese Belohnungen, so seine These, können Menschen in Computerspielen und Cyberwelten sehr leicht, sehr verlässlich und berechenbar auf Mausklick erlangen, der Skinner Box Effekt tritt ein. Das Erreichen vergleichbar intensiver Belohnungen im realen Leben, so führte er weiter aus, sei deutlich komplexer, weniger berechenbar und mit weit aufwendigeren Interaktionen verbunden. Menschen die, so schließt dann seine These, sehr regelmässig die leichte Form der Belohnung erfahren haben, werden weniger interessiert an der komplexeren Interaktion, denn der Aufwand ist vergleichsweise hoch, die Aussicht auf Erfolg, also das Erlangen von Belohnungen, zumindest unsicher. Er schließt mit dem Hinweis, dass jedes Jahr, dass man die noch sehr vulnerablen Gehrinvernetzungen von jungen Menschen von „derlei Medien“ fernhält ein gewonnes Jahr für die Entwicklung des Kindes ist – und dem Hinweis, dass der Schöpfer das alles schon mit viel Sinn und Verstand so angelegt hat, wie es ist…

Spätestens da war dann der Punkt, an dem ich mich eher auf das Essen (Tomatenrisotto mit Salsiccia, Roulade von der Seezunge mit Jakobsmuscheln und Schokoladenüberraschung) und die Gespräch an unserem Tisch konzentriert habe. Derlei Pauschalisierungen gepaart mit bestenfalls Halbwissen um die Funktionsweise der einzelnen Disziplinen innerhalb dieses Mediums sind schlimm. Viele Menschen haben den Abend sicherlich mit deutlich mehr Ängsten vor all dem was sich im Netz tummelt verlassen als sie ohnehin schon hatten. Und das waren nicht wenige. Besonders schlimm dabei: Viele der Teilnehmer sind Eltern von Teenagern, sind also in der Pflicht, ihren Kindern einen mitunter geführten und sinnvollen Zugang und Umgang mit den unterschiedlichen Spielarten des Netzes zu vermitteln und zu helfen, bereits in frühen Jahren Grundsteine für echte Medienkompetenz sowie den Umgang und die Interaktion innerhalb von sozialen Netzwerken zu legen.

Dr. Redecker fügte hinterher noch hinzu, dass es doch spannend wäre, zu erleben, wie Menschen in virtuellen Welten interagieren, die keine Spiele sind, keinen vordefinierten Aufgaben und Mustern folgen und die Kommunikation sowie die Versammlung von Menschengruppen nach eigenen Regeln erlauben. Das dies in Secondlife möglich ist, wusste er nicht. Er hatte sich darauf nicht vorbereitet.

Dass es in dem Themenkomplex viele aktuelle Untersuchungen gibt, die (zumindest in Bezug auf soziale Netze) das exakte Gegenteil seiner Aussagen skizzieren und das die soziale Bedeutung von öffentlichem, digitalem sozialen Leben für Jugendliche nicht zu unterschätzen ist, war ihm vermutlich auch nicht bekannt, sonst hätte er nicht so deutlich und repetitiv davor gewarnt.

Danah Boyd ausgewiesene Expertin in diesem Feld schliesst beispielsweise ihren Aufsatz Why Youth (Heart) Social Network Sites: The Role of Networked Publics in Teenage Social Life sehr schön und passend für diese Diskussion, die so ähnlich vermutlich vielerorts zu beobachten ist:

While we can talk about changes that are taking place, the long-term implications of being socialized into a culture rooted in networked publics are unknown. Perhaps today’s youth will be far better equipped to handle gossip as adults. Perhaps not. What we do know is that today’s teens live in a society whose public life is changing rapidly. Teens need access to these publics – both mediated and unmediated – to mature, but their access is regularly restricted. Yet, this technology and networked publics are not going away. As a society, we need to figure out how to educate teens to navigate social structures that are quite unfamiliar to us because they will be faced with these publics as adults, even if we try to limit their access now. Social network sites have complicated our lives because they have made this rapid shift in public life very visible. Perhaps instead of trying to stop them or regulate usage, we should learn from what teens are experiencing? They are learning to navigate networked publics; it is in our better interest to figure out how to help them.

Mein Fazit also: Es hätte ein spannender Abend werden können, im Hinblick auf den Austausch von (gut vorbereiteten Argumenten), es wäre eine gute Gelegenheit gewesen die vielen Facetten der neuen Medien zu zeigen, es wäre Zeit gewesen pauschalisierte Ängste und Sorgen auszuräumen und Eltern zu ermutigen eine Dialog mit ihren Kinder über das Netz zu führen – um vielleicht selbst etwas zu lernen. Man hätte aber auch einfach auch das zu tun können, was der Abend versprach: Über virtuelle Welten sprechen. Denn das ging vollkommen unter…

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